Berlin – „Der Vorstand der Wirecard AG hat entschieden, für die Wirecard AG beim zuständigen Amtsgericht München einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens wegen drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung zu stellen“, hieß es in einer Konzern-Mitteilung vom Juni vorigen Jahres. Es werde zudem geprüft, ob auch Insolvenzanträge für die Tochtergesellschaften der Wirecard-Gruppe gestellt werden müssten. Nach dem Bilanzskandal um Milliardenbeträge, die es nur auf dem Papier gab, flüchtete sich der Zahlungsdienstleister in das Insolvenzverfahren. Nach dem Eingeständnis von Luftbuchungen in Milliardenhöhe wurde die Wirecard-Aktie für 60 Minuten vom Handel ausgesetzt und verlor danach zeitweise bis zu 80 Prozent ihres Wertes. Mitte 2020 war bekannt geworden, dass in der Jahresbilanz von Wirecard 1,9 Milliarden Euro fehlen. Die Konzernspitze äußerte damals scheinheilig die Vermutung, dass das bei philippinischen Banken geparkte Geld „mit überwiegender Wahrscheinlichkeit“ gar nicht existiert. Der zurückgetretene Wirecard-Chef Markus Braun wurde vorübergehend festgenommen, dann aber gegen eine Kaution von fünf Millionen Euro wieder freigelassen. Er hatte vorher mit einer Reihe von Aktienverkäufen insgesamt 155 Millionen Euro erlöst. Die Staatsanwaltschaft München I begann mit der Prüfung aller in Betracht kommenden Straftaten und warf Braun und Mittätern vor, die Bilanzsumme und das Umsatzvolumen durch vorgetäuschte Einnahmen massiv aufgebläht zu haben. Das von Politik und Medien lange Zeit hochgejubelte Unternehmen hatte bis Juni letzten Jahres keine testierte Bilanz für 2019 vorgelegt. Als sich herausstellte, dass Bestätigungen über Treuhandkonten offensichtlich gefälscht waren, verweigerten die Wirtschaftsprüfer von EY das Testat.
Florian Toncar (FDP) verlangt maximale Aufklärung des Bilanzskandals der Wirecard AG
Im Juli 2020 nahm der Wirecard-Skandal immer größere Dimensionen an. Nachdem Markus Braun und zwei weitere frühere Führungskräfte in Untersuchungshaft genommen wurden, verlangten Bundestagsabgeordnete von FDP, AfD, Grünen und Linken endlich volle Transparenz. Sie wollten wissen, welche persönlichen Kontakte die Beschuldigten zu Regierungsmitgliedern hatten und was der vollständige Inhalt des Gesprächs von Finanzstaatssekretär Jörg Kukies (SPD) mit Wirecard-Chef Braun am 5. November 2019 war. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) wurde von der Opposition zunehmend der Aufklärungswille abgesprochen und bereits ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss ins Spiel gebracht. „Scholz muss endlich für umfassende Aufklärung im Wirecard-Skandal sorgen. Die bisherigen Darstellungen des Bundesfinanzministeriums sind an vielen Stellen widersprüchlich oder zumindest nebulös“, kritisierte Dr. Florian Toncar. Der finanzpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion nannte es „vollkommen unverständlich, dass das Ministerium und die BaFin angeblich seit Februar 2019 auch in Richtung Wirecard ermittelt haben, aber gleichzeitig zuließen, dass die Bilanzprüfung mehr als ein Jahr dauerte. Augenscheinlich hat Scholz die Dimension des Skandals vollkommen unterschätzt.“
Aus Sicht des Freien Demokraten durfte es bei einer bloßen Sondersitzung des Finanzausschusses zum Wirecard-Skandal nicht bleiben. Angesichts der schwerwiegenden Versäumnisse der Finanzaufsicht, dem Eintreten Angela Merkels für Wirecard bei einer China-Reise und der Rolle der bayerischen Staatsregierung bei der Geldwäsche-Aufsicht sei ein Untersuchungsausschuss unumgänglich geworden, hieß es. Die FDP brauchte zu dessen Einsetzung aber die Zustimmung der Linken und der Grünen, um das nötige Quorum zu bekommen. Toncar machte damals klar, dass er es der Bundeskanzlerin nicht abnimmt, dass sie keine Kenntnis von den Vorwürfen gegen Wirecard gehabt habe, als sie im Herbst 2019 in China für den Konzern die Werbetrommel rührte. Spätestens im Mai 2019 sei der Kern des Betrugsmodells durch die Berichterstattung in der „Financial Times“ publik gewesen. Der Finanzpolitiker des Jahrgangs 1979 sagte: „Es ist für mich nicht vorstellbar, dass diese Berichterstattung am Kanzleramt völlig vorbeigegangen sein soll. Irgendjemand muss dort entschieden haben, dass sich die Kanzlerin trotz der Vorwürfe für Wirecard stark machen kann. Es ist doch hochgradig beschämend für die Bundesregierung, sich im Ausland ganz offiziell für ein betrügerisches Unternehmen eingesetzt zu haben.“ Der Liberale vermisste bei Merkel deshalb die Bereitschaft zur Selbstkritik.
Am 1. Oktober 2020 beschloss der Bundestag auf Antrag von FDP, Linken und Grünen die Einsetzung des dritten Untersuchungsausschusses. Das neunköpfige Gremium unter dem Vorsitz des AfD-Abgeordneten Kay Gottschalk untersucht seitdem das Verhalten der Bundesregierung und der ihr unterstehenden Behörden im Zusammenhang mit den Vorkommnissen um den inzwischen insolventen Zahlungsdienstleister. Im März 2021 setzte der Ausschuss ein Team aus vier Wirtschaftsprüfern als weitere Ermittlungsbeauftragte ein, um die von EY, dem langjährigen Wirtschaftsprüfer der Wirecard AG, übergebenen Unterlagen auszuwerten. Mit Stand vom 23. April 2021 hat der Ausschuss 98 Personen mündlich und schriftlich befragt. Dazu gehörten neben ehemaligen Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern der Wirecard AG auch Wirtschaftsprüfer, Angehörige von Aufsichtsinstitutionen, der Bundesbank und der obersten Bundesbehörden sowie Journalisten. Genau einen Tag vor der ersten Sitzung des Untersuchungsausschusses präsentierte Olaf Scholz seinen „Wirecard-Aktionsplan“. Aus Sicht Toncars wollte er damit nur Handlungswillen vorgaukeln. Das Ganze sei nicht mehr als ein Stichwortzettel mit unverbindlichen Prüfaufträgen. „Da trieft das schlechte Gewissen aus jeder Pore. Es handelt sich in Wahrheit um einen Kanzlerkandidaten-Rettungsplan“, so der Freie Demokrat. „Scholz geht es nicht um die Sache, er will mit einer politischen Inszenierung von seinem eigenen Versagen als oberster Chef der Finanzaufsicht ablenken.“
In einer Zwischenbilanz zum Untersuchungsausschuss haben Abgeordnete der Oppositionsfraktionen ein umfassendes Systemversagen kritisiert. Der Skandal sei nicht bloß auf hohe kriminelle Energie bei Wirecard zurückzuführen, sondern auch auf gravierende Fehler bei Aufsichtsbehörden sowie der Bundesregierung. Die Finanzbehörden und politischen Verantwortlichen hatten „triftige, fundierte Hinweise auf kriminelles Verhalten bei Wirecard“ und das „nicht nur aus der Zeitung“, so Florian Toncar. Er verwies beispielsweise auf Informationen der Bundesbank, die „auf dem Behördenweg verloren“ gegangen seien, und auf einen Geldwäscheverdacht des Zolls. In einer „Kultur der Nichtverantwortung“ werde vor allem auf Zuständigkeitsfragen geschaut „und zu wenig in Zusammenhängen gedacht“, beklagte der FDP-Finanzexperte.
Im April erneuerte er seine Überzeugung, dass die Bundeskanzlerin vor Ablauf ihrer Amtszeit noch „einiges aufzuräumen“ habe. Sie trage zwar keine direkte Schuld am Wirecard-Skandal, habe dem Unternehmen aber noch im Herbst 2019 den Rücken gestärkt. Angesprochen auf ihr Lobbying in China sagte der FDP-Politiker: „Merkel hat sich im September 2019, also ein Dreivierteljahr bevor der Konzern implodiert ist, für Wirecard eingesetzt. Damals befand sich das Unternehmen in einer besonders kritischen Phase… Wirecard hat damals die Übernahme eines chinesischen Unternehmens genutzt, um sich Zuhause in ein gutes Licht zu rücken. Wirecards China-Deal kam auch durch Merkel zustande.“ Sie sei womöglich unwissend gewesen. Aber auch das könne man ihr vorwerfen. „Und unser Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg hat es ausgenutzt.“ CSU-Mann zu Guttenberg hat als Lobbyist seines Unternehmens Spitzberg Partners für Wirecard gearbeitet.
Was der Skandal für den Parlamentarischen Geschäftsführer der FDP-Fraktion ist, beschrieb er unlängst so: „Der Fall des im Juni 2020 zusammengebrochenen DAX-Unternehmens Wirecard war vieles – eine bittere Pleite für Aktionäre, der Verlust des Arbeitsplatzes für 750 Mitarbeiter, eine Offenbarung für Wirtschaftsprüfer und Finanzaufsicht, ein Lehrstück über politische Patronage für einen nationalen Champion. Nicht zuletzt war Wirecard der spektakulärste Bankraub der jüngeren Geschichte – ganz ohne Waffen und Fluchtfahrzeug.“